Sehr geehrte Frau Präsidentin Dr. Hubig,
im kommenden Jahr feiern wir 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Jüdisches Leben gehört zu Deutschland. Um allerdings die Nachhaltigkeit und freie Entfaltung jüdischen Lebens in Deutschland garantieren zu können, besteht aus Sicht der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) noch dringender Handlungsbedarf.
Unsere deutschen Hochschulen und Universitäten stehen für Pluralismus, Weltoffenheit und Diversität ein und doch gibt es Menschen, die studieren, forschen und lehren wollen, sich aber benachteiligt oder vor die Wahl zwischen einer akademischen Zukunft oder ihrer Glaubenspraxis gestellt fühlen.
Die Terminierung universitärer Staatsexamina, insbesondere in den Studienfächern der Medizin, Rechtswissenschaft, Pharmazie und teilweise auch der Lehramtsstudiengänge, stellt für viele religiöse jüdische Studierende eine Herausforderung dar.
Das Judentum ist die einzige monotheistische Religion, die ein striktes und dogmatisches Arbeitsverbot an Feiertagen vorschreibt. Die jüdischen Gesetze definieren den Arbeitsbegriff konkret und unterteilen ihn in 39 verbotene Tätigkeiten, zu denen unter anderen auch die Verbote des „Schreibens“ und des „Korrigierens“ zählen. Dieses Arbeitsverbot gilt neben dem „Schabbat“ an sechs Feiertagen, deren Daten jederzeit und für jedes Prüfungsamt im Kalender zugänglich und abrufbar sind. Es gilt für dieFeiertage Rosch HaSchana (Neujahr), Jom Kippur (Versöhnungstag), Sukkot(Laubhüttenfest), Schemini Azeret (Schlussfest), Pessach (Passah-Fest) und Schawuot (Wochenfest). Ein Verstoß gegen das Schreibverbot bedeutet gleichzeitig einen schweren Verstoß gegen die Gebote G’ttes. JüdischeStudierende werden somit zwangsweise vor die Wahl zwischen der Fortsetzung ihres Studiums und ihrer Glaubensfreiheit gestellt. Eine Entscheidung zugunsten der eigenen religiösen Überzeugung verlängert ohne eigenes Verschulden die Studienzeit des jüdischen Studierenden. Im Jurastudium kann dies im Regelverlauf folglich den Freiversuch im Staatsexamen kosten. Eine solche Entscheidung hat studiengangübergreifend auch gravierende Auswirkungen auf die Studienfinanzierung und verzögert den Einstieg des Studierenden ins Berufsleben. Jüdische Studierende sind folglich bereits in derAusgangssituation gegenüber anderen Studierenden auf nicht hinnehmbare Weise benachteiligt.
Nach der Rechtslage im Schulrecht können sich Schüler*innen nicht-christlicher Konfessionen vom Schulunterricht, an religiösen Feiertagen – in der Regel unproblematisch – befreien lassen. Daraus resultiert die Frage, wie es sein kann, dass sich Schüler*innen aus religiösenGründen an den anerkannten Feiertagen vom Unterricht befreien lassen können, eine derartige Befreiung jedoch für Studierende nicht anerkannt wird und wie dies mit der grundrechtlich geschützten Religionsfreiheit aus Art. 4 I, II GG vereinbar ist.
An gesetzlichen Feiertagen, die meist einen christlichen Ursprung haben, werden in Deutschland keine Prüfungen geschrieben.Religiöse Studierende christlicher Glaubensgemeinschaften werden folglich nicht vor die Entscheidung zwischen Studium und Glaubenspraxis gedrängt. Anders hingegen gestaltet sich die Lage der jüdischen Studierenden, vor allem in denExamensstudiengängen der Rechtswissenschaft und Medizin.
Die grundrechtlich in Art. 4 GG geschützte Religionsfreiheit ist ein hohes Gut unserer freiheitlich-demokratischenGrundordnung, wird aber im Rahmen der Examensterminierungen mit Hinblick auf Feiertage der jüdischen Glaubensgemeinschaft bislang nicht berücksichtigt. Nach Art. 3.3 GG gilt ein Diskriminierungsverbot, das Benachteiligungen unteranderem aufgrund von religiösen Überzeugungen verbietet. Eine Benachteiligung entsteht allerdings dadurch, dass sich im Zweifelsfalle der Entscheidung zugunsten der religiösen Überzeugung, der Studienverlauf um mindestens ein Semester verzögert. Gemäß Artikel 4.2 GG ist die ungestörte Religionsausübung ferner zu gewährleisten. Die Ausführung der Bundesländer scheint beim Festlegen der Prüfungstermine diesen Gedanken zu missachten.
Jüdische Studierende beklagen ein fehlendesEntgegenkommen und Verständnis sowie einen schweren bürokratischen Kampf, der mit einer langen und ungewissen Verfahrensdauer und Kosten zusammenhängt.
Als bundesweite Vertretung von ca. 25.000 jüdischen Studierenden und jungen Erwachsenen schließt sich die Jüdische Studierendenunion Deutschland der Forderung des Präsidenten des Zentralrats derJuden in Deutschland K.d.Ö.R., Herrn Dr. Josef Schuster, an, Ausweichtermine für gläubige jüdische Studierende zu ermöglichen, die aufgrund ihrer Religionsausübung an der Wahrnehmung der regulären Prüfungstermine im Rahmender Staatsexamina verhindert sind. Zur Überprüfung schlagen wir zudem von religiösen Funktionären der jüdischen Gemeinden ausgehändigte Bescheinigungen über die „Feststellung der Verhinderung an der Prüfungsteilnahme“ vor.
Wir bitten Sie auf diesemWege, Konzepte, die Ausnahmeregelungen und Ausweichtermine beinhalten zu prüfen, um Gewissensentscheidungen religiöser jüdischer Studierender zwischen ihrerKarrierelaufbahn und im Zweifel der Achtung religiöser Vorschriften in Zukunft zu vermeiden.