Im deutschsprachigen Raum wird der 8.Mai hinlänglich als „Tag der Befreiung“ gefeiert. Doch fand am 8.Mai 1945, heute vor 75 Jahren eine Befreiung statt? Die Wehrmacht kapitulierte und somit war die militärischeNiederlage Nazi-Deutschlands endgültig besiegelt. Nach knapp sechs Jahren Weltkrieg haben die Alliierten (namentlich die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion) Hitlers Herrschaftsfantasien zerschmettert. Oftmals wird der 8.Mai als Befreiung Deutschlands bzw. Europas vom Faschismus und Nationalsozialismus gesehen. Die Barbarei Nazi-Deutschlands kam nicht von heute auf morgen. Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung gab es schon vor Hitlers Machergreifung 1933 und sie sind auch nach Ende des Krieges nicht einfachverschwunden.
Die NSDAP wurde zwar 1945 durch das Kontrollratsgesetz Nr.2 durch die Alliierten verboten, aber ehemalige Angehörige des Nazi-Regimes fanden ihren Weg in Gesellschaft und Politik. Sei es in Parteien wie der Sozialistischen Reichspartei und der Deutschen Reichspartei. Oder In Parteien wie der CDU, SPD oder FDP, die ausnahmslos Altnazis in ihren Reihen hatten.
Im Jahr 1964 gründete sich mit der NationaldemokratischenPartei (NPD) eine indirekte Nachfolgerpartei der NSDAP, die eine Nähe zum Nationalsozialismus aufweist. In der Vergangenheit konnte die Partei u.a. in die Landtage von Baden-Württemberg, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern einziehen.Bis heute schlugen mehrere Versuche, die NPD juristisch zu verbieten, fehl.
Auch juristisch war der deutsche Staat bis zur Aufnahme der Auschwitzprozesse (durch den jüdischen Staatsanwalt Fritz Bauer) in den 1960erJahren wenig darum bemüht, die eigene NS-Vergangenheit strafrechtlich aufzuarbeiten, stattdessen wurden NS-Täter*innen durch Strafmilderungen und gesetzliche Amnestien nahezu durchgehend begnadigt und die Ausführenden derMassenmorde lediglich als Gehilf*innen verurteilt.
Um 1970 kam es zu einer militanten Radikalisierung der rechtextremen Szene. Dabei machte vor allem die Wehrsportgruppe Hoffmann Schlagzeilen. Die Wehrsportgruppe Hoffmann und ihre Mitglieder waren u.a. für den Anschlag auf das Oktoberfest1980, bei dem 13 Menschen ermordet wurden, verantwortlich. Kurz darauf wurden der ehemalige Vorsitzender IKG Nürnberg Shlomo Levin und seine LebensgefährtinFrida Poeschke ermordet. Dieser antisemitisicher Doppelmord in Erlangen jährt sich im Dezember zum 40.Mal. Bis heute wurden keine (Mit-)Täter*innenverurteilt!
Die deutsche Wiedervereinigung brachte eine weitere rechtsextreme Welle mit sich. Die rassistische Gewalt gegen Menschen mit Migrationshintergrund und Asylsuchende stieg an. Ein trauriger Höhepunkt dieserGewaltexzesse war der Anschlag auf eine Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber*innenin Rostock-Lichtenhagen (1992). Gefolgt vom Aufstieg desNationalsozialistischen Untergrundes (NSU). Innerhalb weniger Jahre ermordete das NSU-Trio neun Menschen mit Migrationshintergrund und eine Polizistin. DerNSU-Komplex stellt bislang unbeantwortete Fragen an unsere Behörden (z.B. das Wissen des Verfassungsschutzes). Von einer „lückenlosen Aufklärung“ sind wir weit entfernt.
Und heute? Wie befreit sind wir von nationalsozialistischem, faschistoiden und rechtsextremen Gedankengut? Inwieweit kann bei Vorfällen wie Teutonica, Uniter, Hannibal oder NSU 2.0 von Netzwerken gesprochen werden? Inwiefern kann bei Anschlägen wie bei Lübcke, in Halle oder in Hanau von Einzelfällen gesprochen werden? Im Schatten des „Tages der Befreiung“ wucherte etwas, etwas was nicht in die sonnige Erzählung einer „befreiten Republik“ passte. Uns ist bewusst, die Anerkennung und die Auseinandersetzung mit den strukturell faschistischen Kontinuitäten innerhalb der Bundesrepublik Deutschland ist schmerzhaft. Es wird schmerzhaft, weil wir erkennen müssen was im Schattengewachsen ist. Aus einer rechtsextremen Schattenpflanze, ist inzwischen einWald aus „Einzelfällen“ gewachsen. Vor 75.Jahren wurde das faschistische System in Deutschland besiegt und die Menschen vor Hitler gerettet. Doch eine gänzliche Befreiung vom Faschismus hat nicht stattgefunden.
Unsere gesellschaftliche Aufgabe ist es, am 8.Mai und an jedem anderen Tag, gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus einzutreten.